Das Mädchen ist noch klein, als die Eltern beschließen, die DDR zu verlassen. Doch leider missglückt der erste Fluchtversuch. Die Eltern werden inhaftiert und das Kind kommt zu den Großeltern, die es ab sofort schwer haben. Denn mit Republikverrätern spaßte man nicht im deutschen Osten. Und auch nicht mit deren Angehörigen. Doch schließlich kauft der Westen die Familie frei und sie werden offiziell zu Westdeutschen, die hingehen können, wo sie hingehen möchten. Das Schicksal verschlägt sie nach Aachen, in die so ziemlich westlichste Stadt der Bundesrepublik Deutschland. Doch auch in Aachen ist nicht alles Gold, was glänzt. Die Mutter, schwer gezeichnet durch die Haft und eine noch schlecht erforschte Autoimmunerkrankung, zieht sich immer mehr in ihr Schneckenhaus zurück. Der Vater ist hin- und hergerissen zwischen der Dankbarkeit, in Aachen leben zu dürfen, und der in seinen Augen oberflächlichen Lebensart der Westler. Und das kleine Mädchen? Es tanzt zwischen zwei Welten. In Aachen ist sie die Ostdeutsche, die versucht, sich gegen den Willen des Vaters maximal anzupassen. Bei Familienbesuchen in Leipzig ist sie die aus dem Westen, die sich in dem Ort, der einst ihr Zuhause war, nicht mehr heimisch fühlt. Als wäre es nicht schon schwer genug, erwachsen zu werden.
Ich bin völlig unbedarft an das Buch herangegangen, weil ich keine Ahnung hatte, was da auf mich zukommt. Und wie bei so ziemlich jeder Lektüre habe ich mich nach und nach eingefunden. Fühlte mich mit manchen Charakteren verbunden, schüttelte den Kopf über andere. Bis im Text plötzlich der Name Neumann fiel. Verdammt, das ist gar kein Roman? Eine kurze Recherche bestätigte meinen Verdacht. Der Text ist autobiografisch. Und plötzlich verbat ich es mir selbst, zu sehr Partei zu ergreifen, denn über echte Menschen mag ich nicht urteilen. Über den Text dagegen schon.
Er ist wie ein Sog. Auf der einen Seite hat er etwas Sachliches und gleichzeitig taucht man recht tief ein in die Gefühlswelt des Mädchens. Ich hätte sie so manches Mal gerne in den Arm genommen, weil sie so verloren wirkte, und sie an anderer Stelle gerne bestätigt. Komm, geh deinen Weg. Es wird vielleicht nicht alles gut, aber das ist okay so. Das nennt man Leben. Denn so ist es nunmal. Viele von uns erleben im Laufe der Jahre Dinge, die man sich so nicht wünscht und wenn es okay läuft, zerbrechen wir nicht daran. Wobei ich beim Epilog schon schlucken musste. Zeigt er doch, dass jeder Mensch nur ein begrenztes Maß an Schicksal schultern kann.
„Das Jahr ohne Sommer“ von Constanze Neumann ist ein stilles Buch. Aber wie sagt man so schön? Stille Wasser sind tief. Und stille Bücher zum Glück auch.
Ich habe dieses Buch selbst gekauft und der Artikel spiegelt meine eigene Meinung wider, die von niemandem beeinflusst wurde.