Single­börsen – Liebes­booster oder Flirten mit an­ge­zogener Hand­bremse?

Alltägliches

Single­börsen – Liebes­booster oder Flirten mit an­ge­zogener Hand­bremse?

Zuerst zeigt er ihr die Aus­sicht. Ganz nah tritt er an sie heran, weist mit dem Finger hier­hin und dort­hin, berührt dabei wie zu­fällig ihren Arm. Irgend­wann ziehen sie um auf das Balkon­sofa. Sie reden, er streichelt sie, sie küssen sich. Immer intensiver. Bis er sie hinter sich her in sein Schlaf­zimmer zieht. Nein, ich rede hier nicht von einer Szene aus einem Roman, sondern von meinem Nachbarn, der im Frühling im Haus gegen­über ein­ge­zogen ist.
Obige Situation habe ich mehr­fach beim Kochen, als ich neben­bei aus dem Balkon­fenster schaute, be­ob­achtet. Deshalb dauerte es wohl auch einige Abende, ehe ich kapierte, dass es sich jedes Mal um eine andere Frau handelte. So zeigt man heut­zutage also seine „Brief­marken­sammlung“.
Und zack hatte der Nachbar seinen Spitz­namen weg: Mr. Tinder. Benannt nach dem be­kannten Dating­portal, bei dem so viele an­geblich ihren vermeint­lichen Traum­partner suchen.

Ich selbst bin seit fast zwei Jahr­zehnten mit ein und dem­selben Mann liiert und doch lässt mich das Thema Dating­portale seit­dem nicht mehr los. Da sind die Freundinnen, die immer wieder davon be­richten, dass sie mit Hilfe dieser Platt­formen regel­mäßig Männer treffen, die so gar nichts mit dem dort prä­sen­tier­ten Profil ge­mein­sam haben. Das Bild geschönt oder uralt und der an­geb­liche Manager entpuppt sich als Sach­be­arbeiter bei einer Kranken­ver­sicherung. Der Porsche, mit dem er posiert hat, stand zufällig am Straßen­rand und seine Stimme erinnert eher an Kreide, mit der jemand schief über eine Tafel kratzt. Aber nicht an die Stimme, von der Frau gerne un­an­ständige Dinge ins Ohr ge­flüstert be­kommt.
Dabei hat die Platt­form doch ver­sprochen, dass sich bei ihnen alle elf Minuten ein Single verliebt. Leider haben sie ver­gessen zu er­wähnen, dass es zwei Ver­liebte braucht, um ein Paar zu finden. Und was ist mit den Singles mit Niveau? Woran bemisst sich Niveau? Am Geld­beutel? Ich habe große Zweifel, denn mir sind schon viele Menschen mit einem großen Geld­beutel oder einer guten Aus­bildung begegnet, die ein Be­nehmen wie eine offene Hose hatten. So einfach ist sie dem­nach wohl nicht, diese Sache mit dem Niveau.

Ich frage mich ja, wann das passiert ist. Wann haben wir Menschen an­ge­fangen zu glauben, wir könnten uns einen Traum­partner per Wunsch­liste zu­sammen­klicken? Würde das wirklich funktionieren, wären Herr K. und ich heute kein Paar. Ich wäre durch sein Raster ge­rutscht, weil ich die falsche Musik höre und er wäre in meiner Ergebnis­liste wegen der ver­meint­lichen Wunsch-Körper­größe wahr­schein­lich nicht auf­ge­taucht. Dabei spielten beide Faktoren in unserer ge­meinsamen Zeit noch nie eine Rolle.
Und des­halb wundere ich mich jedes Mal aufs Neue, wenn ich im Sport­studio oder im Warte­zimmer beim Arzt Menschen be­obachte, die potenzielle Partner aus- oder weg­wählen, als könne man sich einfach in einem Katalog bedienen. Wäre es nicht besser, wenn sie mal die Stöpsel aus den Ohren nähmen? Dann könnten sie die nette Frau von gegen­über auch ansprechen. Die würden sie nämlich endlich wahr­nehmen, wenn ihr Blick nicht ständig auf diesem kleinen Display kleben würde. Dann könnten sie auch direkt fest­stellen, ob der potenzielle Date-Partner eine Mickey-Maus-Stimme hat oder ob man sich gegen­seitig riechen kann.
Ihr seht, ich bin ein ganz, ganz großer Freund der direkten Kom­mu­ni­kation. Weil ich es einfach spannend finde, andere Menschen kennen­zu­lernen und weil man nie weiß, was sich aus solchen Be­gegnungen noch er­geben kann. Solltet ihr also mal im Flieger neben mir sitzen, sprecht mich einfach an. Wenn es schlecht läuft, kann jeder von uns danach wieder zu seinem Buch oder seiner Musik zurück­kehren. Läuft es besser, haben wir vielleicht ein wirklich gutes Gespräch und tauschen uns über die inter­essan­testen Aus­flugs­möglich­keiten am Ziel­ort aus und wenn es richtig gut läuft, habe ich da vielleicht auch einen gut­aus­sehenden, intelligenten Freund oder eine Freundin, der/die gerade auf der Suche nach einer Partner/in ist. Ist das dann Dating 3.0? Ich weiß es nicht. Aber persönlicher ist es allemal.
Bis dahin gehe ich mal schauen, was Mr. Tinder macht. Jetzt, wo der Herbst gekommen ist. Ob er sich wohl eine Kuschel­höhle ein­ge­richtet hat?

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